Repräsentative Demokratie ohne Parteienzwang

Jede Stimme zählt, jeder findet den Wunschkandidaten

1. Die Wahl erfolgt über elektronische Wahlmaschinen, die, anders als ein Wahlzettel, Tausende Kandidaten umfassen können. Man tippt den Namen des ausgesuchten Kandidaten ein, überprüft die Angaben und bestätigt. Eine Einteilung in formelle Wahlkreise entfällt, man kann auch jemanden am anderen Ende des Landes wählen. Man ist ferner nicht mehr auf Parteilisten angewiesen. Man wählt denjenigen, zu dessen Integrität, Kompetenz und politischer Orientierung man Vertrauen hat.

2. Um gewählt zu werden, braucht ein Kandidat eine festgelegte Anzahl an Stimmen, zum Beispiel 70,000. Kandidaten mit wenigen Stimmen können diese auf andere übertragen, die fast genügend haben. Umgekehrt können Kandidaten mit einem Überschuss an Stimmen diese ebenfalls auf solche übertragen, die fast an der Schwelle liegen. Somit geht so gut wie keine Stimme verloren. Jeder Wähler hat für sich einen Vertreter bestimmt, dem er eine Vollmacht übergeben hat und wird fortan zum Beobachter.
Diese durchgreifende Neufassung würde eine politische Entscheidungsfindung herbeiführen, die tatsächlich repräsentativ für alle gut überlegten Meinungsbilder in der gesamten Gesellschaft wäre. Das Konzept ist bereits auch so robust, lässt sich aber verschiedentlich fein abstimmen, um noch stärker gegen die derzeit geläufigen Manipulationen und Machtkonzentrationen zu wirken. Insbesondere fehlt derzeit in jedem Land die Möglichkeit der getrennten Stimmabgabe für die verschiedenen unabhängigen und großen Bereiche der Politik.

3. Daher werden getrennte Kammern eingerichtet für – beispielsweise – Infrastruktur (d.h. Transport, Straßenbau, Energieversorgung, usw.), Finanzverwaltung, Außenpolitik, Bildungswesen, sowie auch für strittige Themen um die Abgrenzung zwischen Recht und persönlicher Ethik (z.B. Sterbehilfe, künstliche Befruchtung, Drogen, die Rechte der Kinder und die Pflichten der Eltern, die Ausgestaltung der Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau). Eine übergeordnete Kammer kann sich mit Koordinierungsfragen befassen und sonst als Kontrollinstanz bei strittigen Fragen wirken.

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Soweit in Kürze die praktischen Eckpunkte einer demokratischen Verfassung, die tatsächlich repräsentativ wäre. Hintergrund ist das weitgehende Versagen des Parteiensystems – hierzulande und sonst überall – durchdachte Lösungen rechtzeitig anzubieten. Es geht aber nicht allein um die mangelhafte Tauglichkeit der vorhandenen Entscheidungsprozesse, sondern auch um die Wiederherstellung der Legitimität: das derzeitige Wahlsystem mit seiner Vorherrschaft von Parteien führt systembedingt zu Kuhhandel, kurzfristigem Agieren und letztlich korrumpierenden Machtkonzentrationen.
Die "Fuzzy Democracy" – so der Taufname des hiesigen Konzepts der repräsentativen Demokratie – verfolgt mehrere Ziele bzw. beachtet sie diese Überlegungen:
  • Beim Wahlgang soll jeder Bürger seine politische Präferenz einigermaßen präzise ausdrücken können, ohne dass die Befassung mit Politik zu zeitaufwendig oder kompliziert wird. Eine pauschale Aufteilung der Standpunkte in links und rechts reicht heute nicht aus, um eine differenzierte Meldung abzugeben.
  • In der Massengesellschaft führt an einer Filterung der Meinungen und Sachbeiträge kein Weg vorbei; daher muss die Demokratie über Vertretung - d.h. die Vergabe von Vollmachten - laufen.
  • Die Demokratie stellt nicht nur eine Kontrollinstanz oder Bremse gegen Inkompetenz und grobes Unrecht bei der Staatsführung dar. Bei entsprechender Ausgestaltung kann sie auch für einen erhöhten Grad an Kompetenz sorgen. Die Voraussetzung dafür ist, dass sie nicht populistisch arbeitet, wie dies unvermeidlich bei den Volksparteien geschieht. Die Positionierungen der vielen Bürger, die sich ernsthaft informiert haben, müssen stärker ins Gewicht fallen. Das wird durch die Dynamik der Fuzzy Democracy ermöglicht.
  • Der Rückgriff auf Volksentscheide ist bekannterweise kein Ersatz für repräsentative Politik. Die meisten Befürworter der Volksentscheide sind bei dem derzeitigen System der Parteien und Wahlkreise stecken geblieben und wollen mit Hilfe der Volksentscheide eine Korrektur herbeiführen. Die Fuzzy Democracy zeigt aber einen besseren Weg, der mit der Zeit geht und es nicht bei Reparaturen am Rande belässt. (Die Frage, inwieweit ein Volksentscheid ausnahmsweise doch sinnvoll sein mag, wird hier ausgeklammert.)
  • Es wird Vertrauen nur in Personen gesteckt, nicht in undurchsichtige Parteiapparate. Man wählt jemanden, der den eigenen Einschätzungen und Auffassungen recht nahe steht. Man wählt meistens jemanden, bei dem man eine größere fachliche Kompetenz erkennt, beziehungsweise der sich insgesamt in der Sache besser auskennt. Man schaut genau darauf, was für ein Mensch das ist. Was für einer Arbeit geht er nach, wie lange schon und vor allem wie? Wer spricht für ihn, wer steht zu ihm? Kann er selber die politische Integrität seiner Mitmenschen (vor allem der anderen Kandidaten) gut beurteilen? Man sucht im übrigen keinen Allzweckvertreter, der sich überall auskennen will oder mit dem man bei sämtlichen Themen übereinstimmt. Wenn zum Beispiel jemand in die Kammer für Infrastruktur geschickt werden soll, so spielt seine Haltung zum Bildungswesen keine Rolle.
  • Wer über die entsprechenden intellektuellen und charakterlichen Fähigkeiten verfügt, soll sich zur Wahl stellen können, ohne sich einer Partei anzupassen. Die aktive und erfolgreiche Parteimitgliedschaft setzt einen bestimmten Menschenschlag voraus. Damit werden Menschen ausgegrenzt, die Vieles und Wertvolles beizutragen hätten. Bei der Fuzzy Democracy kommen diese zu Wort.
  • Andauernde Machtkonzentrationen sollen möglichst verhindert und sonst minimiert werden. Gegen gelegentliche Wortführer spricht nichts, gegen formelle Führer (z.B. Fraktionsführer) meist alles. Das Ringen um die Macht (oder auch um den Markt der Stimmen) nimmt Energien in Anspruch, die dann für die Befassung mit der Sache fehlen. Am ärgsten ist, dass Standpunkte und Argumente aus populistischen Gründen gewählt werden, anstatt sauber dem Grunde nach. Zuletzt bewirken Machtkonzentrationen, dass auf unliebsame Gedanken nicht mehr gehört wird. Im schlimmsten Fall werden langjährige Machtinhaber von einer Art Psychose heimgesucht. Macht ist also immer wieder der Gegner der Vernunft.
  • Bei Fuzzy Democracy gibt es keinen Parteienzwang und es entsteht keine Parteiendisziplin. Dafür können gern "Think Tanks" – also z.B. eine Adenauer- oder eine Heinrich-Böll-Stiftung – durchaus Hinweise, Hilfestellungen und Empfehlungen geben, wie eine bestimmte Politik aussehen soll, und Kandidaten können sich auf deren Ideen berufen.
  • In der Bundesrepublik Deutschland wird immer wieder die Fünf-Prozent-Klausel thematisiert. Offensichtlich entfällt diese bei der Fuzzy Democracy. Allerdings könnte eine Art negative "Prozent-Klausel" als Vorkehrung gegen die Anhäufung von Macht sinnvoll sein. Viele Bürger machen es sich bequem, indem sie nur auf Prominente achten. Dem Konzept der Fuzzy Democracy zufolge sollten diese Promis nicht übermäßig viele Stimmen erhalten, die sie bei der Umverteilung möglicherweise missbrauchen, um ausschließlich bequeme Mitspieler zu fördern. Es wäre dann eher eine andere Einschränkung vorzuziehen, zum Beispiel dergestalt, dass, wenn das Fünffache des Grenzwertes (etwa 70.000 mal fünf) zustande kommt, der Wähler von einem vernetzten Wahlautomaten abgewiesen wird und einen anderen Kandidaten wählen muss.
  • Der Gedanke hinter der Fünf-Prozent-Klausel war die Vermeidung einer Zersplitterung in viele kleine Parteien, wie dies in der Weimarer Republik mit der Folge der politischen Paralyse geschehen ist. Bei der Fuzzy Democracy aber gibt es praktisch keine Parteien mehr, nur unabhängige Volksvertreter. Die Dynamik dieser Zusammensetzung würde eher die Entscheidungsfähigkeit begünstigen, denn die Vertreter würden sich von vielen Formen des Drucks befreit sehen. Sie wären im Übrigen gezwungen, zu ihrem politischen Verhalten zu stehen, denn sie könnten sich nicht mehr hinter Parteivorgaben verstecken. Eine fatale Eigenschaft der derzeitigen Verfassung – neben der persönlichen Machtkonzentration auf einige wenige Funktionäre – liegt darin, dass Entscheidungen gefällt oder unterlassen werden, ohne dass jemand dafür gerade steht.
  • Die Fuzzy Democracy setzt auf eine hohe Qualität der Wähler und Kandidaten, nicht aber unbedingt auf deren Quantität. Heute wird zunehmend über eine niedrige Wahlquote gejammert. Dahinter steckt eine merkwürdige Auffassung vom Bürger und seinen Pflichten. Die Menschen sind zum Glück verschieden. Man dürfte zwar von jedem Anwalt erwarten, dass er sich politisch ein wenig positioniert, nicht aber das Gleiche von jedem erwarten, der — anders geartet — einen ganz anderen Lebensweg gegangen ist. Wer keinen seelischen oder geistigen Zugang zur großen Politik hat und sich dementsprechend von den Wahlurnen fernhält, mag auf seine Weise mit Spurenelementen wesentlich zum gesellschaftlichen Zusammenhalt beitragen. Vergleiche ihn mit tausend Bürgern, die, den Parolen und Fotos in der Werbung folgend, brav zur Wahl gehen. Mit ihrer „Beteiligung“ neutralisieren diese — vernichten sogar — die Meinungsmeldung von Bürgern, die sich informiert und wirklich Gedanken gemacht haben. Es sieht nach und nach so aus, als ob sich ausgerechnet die politisch Interessierten von den Wahlen fernhalten, dafür aber beteiligen sich diejenigen, die die Wahl mit einem Sportereignis verwechseln. Dann liegt das Problem nicht bei der niedrigen Wahlquote, sondern bei der Qualität des Wahlangebotes und bei der Wahlpropaganda.
  • Eine formelle Opposition entfällt, dafür bilden sich thematisch immer wieder zweckgebundene Oppositionen, die aber konstruktiv wirken können, weil sie nicht künstlich auf Konfrontation ausgerichtet sind.
  • Vieles Bewährte der derzeitigen Verfassung sollte beibehalten oder sogar weiterentwickelt werden, so zum Beispiel die Trennung von Legislative und Exekutive oder das konstruktive Misstrauensvotum.

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Es gibt hier viele Facetten, die weiter zu erläutern wären sowie etliche, die je nach der Handhabung durch die Bürger und die politisch Engagierten leicht anders gestaltet werden könnten, um die vorhandene Kultur, den sonstigen politischen Umgang und das Geschichtsbewusstsein zu berücksichtigen. Bei Fuzzy Democracy handelt es sich um ein Konzept für Länder, in denen die Voraussetzungen für eine echte Demokratie (d.h. Diskussionskultur, Rechtsstaatlichkeit) einigermaßen ausgereift sind.

Aussichten auf Umsetzung

... Wer nicht weiß, wo er hin will, kann sich nicht einmal auf den Weg machen ...

Viele Elemente der Fuzzy Democracy ließen sich bereits jetzt einzeln einsetzen: Es könnten somit Erfahrungen gesammelt und Anpassungen erarbeitet werden. Es würde sich zum Beispiel als erstes anbieten, eine Ethikkammer (anstelle der Bevormundung durch Ethikkommissionen) einzurichten. Oder da, wo es wiederholt zu kostspieligen und teils gewalttätigen Demonstrationen kommt, bietet es sich an, eine Sachkammer zu bilden. Zum Beispiel: Anstatt Polizei bei Großdemos über Bauprojekte oder Energieversorgung einzusetzen, könnte man mit der Fuzzy Democracy eine Sachkammer für Infrastruktur einrichten.
Mitte der sechziger Jahre, zwischen A für Adenauer und B für Brandt, hatte die Parteiendemokratie in vielerlei Hinsicht eine anständige Basis. Inzwischen haben wir anstatt Basis das Internet und die Vertrautheit mit elektronischen Geräten. Die Fuzzy Democracy hat es Ende des 20. Jahrhunderts nicht gegeben, weil das 21. Jahrhundert noch nicht richtig da war. Jetzt aber wäre es an der Zeit, dass die Bürger die Bevormundung abstreifen und die Volljährigkeit einfordern.

Es würden sich zur Wahl bestimmt charakterlich ganz andere Menschen stellen, als diejenige, die wir gewohnt sind. Es würden sich Leute aus kirchlichen aber auch viele aus humanistischen Kreisen melden. Wir sind nicht alle einer Meinung bei diesen Fragen, und unsere Konflikte sollten offen anerkannt und ausgetragen werden. Eine solche Volksvertretung hätte eine ganz andere Zusammenstellung – und eine weit höhere Legitimation – als jeder von oben her aufgesetzte “Ethikrat”.
Wenn im übrigen einmal ermöglicht wird, getrennte Volksvertretungen (Fachparlamente) zu wählen, so entfällt teilweise der Sinn der Demonstrationspraxis.


Soweit in Kürze dieser Aufruf im Namen der Representativen Demokratie — und gegen deren Feinde, nämlich die politischen Parteien; und ebenfalls entschieden gegen den einfältigen Populismus der Volksentscheide.