Die Begriffe „Ethik“ und „Moral“ werden meistens ungenau beziehungsweise ohne Definition verwendet. Zum Teil werden sie missbraucht, um Macht über moralisch sensiblen aber verunsicherten Menschen auszuüben. Häufig aber werden sie von Wortführern in Anspruch genommen, die sich zwar gern als „Ethiker“ vorstellen und ausgeben, die Sache aber keineswegs durchdacht haben.
Der Sinn der nachstehenden Ausführungen ist es, ein Gegenbild zu den am verbreitesten Fehlkonzeptionen anzubieten.
I. Wir fangen hier an:

„Ethik ist kein Rechtssystem in Wartestellung.“

Überprüft man die Aussagen, die in Gesprächen über Moral & Ethik gebracht werden, so stellt man fest, es handele sich meistens um den Versuch, zumindest gedanklich allgemein gültige Regel – quasi Gesetze – oder vielleicht auch Prinzipien – aufzustellen. Dies setzt voraus, erstens, dass solche sich formulieren lassen, und zweitens, dass die Menschen ausreichend motiviert sind, sie einzuhalten.

Dieser Auffassung ist entgegen zu halten, dass dort, wo sich Regeln allgemein und mit Konsens formulieren lassen, dies schon längst geschehen ist. Wir haben einerseits das grundliegende Rechtssystem, das z.B. die körperliche Unversehrtheit eines jeden und die Achtung des Eigentums vorschreibt, andrerseits die nicht-gesetzlichen Sitten des Umgangs miteinander. Diese letzte kann man gut mit dem Wort „Moral“ bezeichnen, wobei „Moral“ weitgehend auch die Gesetzestreue voraussetzt. Vieles im Leben muss aber dem Ermessen des Individuums überlassen werden, denn die Regeln müssen ständig ausgelegt und ihre Rangordnung gemäß den Umständen neu geordnet werden. Selbst die geschriebenen Gesetze sind bald nicht mehr durchschaubar.

Nun das Ermessen verfährt anders als die Befolgung von Regeln, sonst wäre es ja kein Ermessen mehr. Das Ermessen bedient sich der Vernunft im weitesten Sinne, wobei sie sich nicht in bloße Logik erschöpft. Zum Ermessen gehört der Verzicht auf Regelbefolgung, denn die Regeln stehen ihm im Wege.

Wir haben also mit zwei Bereichen zu tun, in denen die Denkweisen grundverschieden sind. Zum Vergleich: Man kann ein musikalisches Instrument spielen – normalerweise von einer Partitur; die Komposition von Musik ist aber von der Geisteshaltung her vollkommen anders.

Nichtsdestoweniger gibt es Bewegung zwischen den beiden Bereichen. Manches, das dem einen Bereich zugeordnet war, wechselt mit der Zeit zum anderen, und umgekehrt. Dieser Wechsel ist eine Kernaufgabe der Politik, findet sich aber ebenfalls bei der Kultur. Diesen schmalen, sich ständig ändernden Bereich können wir mit dem Wort (der Metapher) „Niemandsland“ bezeichnen.

II.

In den Debatten um Moral & Ethik wird meistens die Motivation außer Acht gelassen. Die einen glauben – nach Kant (dem verhängnisvollen Vordenker dieses Ansatzes) – dass man einem inneren Gesetz zu befolgen habe. (Dass bei vielen Menschen diese Innerlichkeit wohl recht kurz kommt, steht auf einem anderen Blatt.) Die anderen weisen auf das Gewaltmonopol des Staates hin, womit Strafen für Überschreitung der Gesetze durchgesetzt werden. Wer sich gegen die informellen Regeln des Umgangs miteinander verstößt, wird durch Ausgrenzung oder sonstige Nachteile bestraft.

Gerade bei der Frage der Motivation erscheint es sinnvoll, Moral und Ethik zu unterscheiden. Man kann bei Nichteinhaltung der Moral (der Gesetze) unter Umständen unbestraft davonkommen oder bereit sein, die Strafe hinzunehmen. Damit wären wir im Bereich der Ethik. Hier wird nicht nach sich allgemeingültig wollenden Regeln agiert, sondern auf der Grundlage der Selbstauffassung. Soweit eine Regel zur Anwendung kommt, dann eine Faustregel, die man für sich und seine Besonderheiten ausgedacht hat.

Im Übrigen ist noch ein wesentlicher Vorbehalt gegen die Regeln beziehungsweise die Kodizes anzumerken. Diese verleiten zu gedankenloser – auch gewissenloser – Anwendung. Wenn die Muskel nicht benutzt werden, erschlaffen sie bekanntlich. Wenn die Menschen ihr Verhalten im Einzelnen nur noch nach Regeln gestalten– sei es aus Bequemlichkeit oder Angst – so sind sie nach & nach nicht mehr imstande, Urteile situativ selbständig zu bilden oder auch Rückgrat zu zeigen. Somit werden die Regelwerke mal Feinde der Ethik und des Guten. Die besten Regeln sind zuweilen diejenige, die man selbst erfindet (und gelegentlich überprüft). [Siehe auch: http://www.klasseverantwortung.de/english/Rules.html]
Hier ein zweiter Grundsatz:

III.

„Niemand ist für alles verantwortlich,
aber jeder für etwas.“

Daraus ergibt sich bzw. hier wird vorausgesetzt, dass man wählen kann, was man zu verantworten hat (und was nicht). Das ist ein Freiheitsbegriff. (Man ist nicht immer frei: extreme Umstände können Verantwortung uneingeladen aufdrängen.)

Damit, dass man seine Verantwortungsbereiche wählt, gewinnt man auch ein Stück Identität. Die Verantwortung streckt sich in die Zeit. Man handelt fortan, so wie man handelt, weil man ein bestimmtes Selbstbild (geschaffen) hat.

(Nebenbemerkung: Für die Gesellschaft insgesamt ergibt sich daraus eine Art Gewaltenteilung, denn um zu gedeihen braucht die Gesellschaft die unterschiedlichsten Menschen in verschiedener Anzahl. Man braucht Menschen, die Mut machen und mutig sind, aber auch welche, die zu Vorsicht und Zurückhaltung mahnen. Wenn man Ratschläge erteilt, dann sagt man dem einen, „He who hesitates is lost,“ dem anderen aber,„Fools rush in where angels fear to tread.“)

Die Kernfrage in der Ethik im vorliegenden Sinne (wie auch in der Antike) ist demnach: Wie soll ich – wie will ich – leben? Vielleicht auch: Wie will ich gelebt haben? Dazu gehört: Was für Beziehungen möchte ich (kann ich, praktisch) mit meinen Mitmenschen erreichen? Denn bei der Ethik geht es prinzipiell um Handlungen (Einstellungen) den Mitmenschen (ggf. auch den höheren Tieren) gegenüber. Allerdings sind arg wenige Handlungen wirklich losgelöst von den Belangen der Gesellschaft oder der Mitmenschen. Nicht einmal die Zahnhygiene.

IV.

Eine Anmerkung noch: Das Wort „Ethik“ wird verbreitet in einem etwas anderen Sinne verwendet, der für Verwirrung sorgt, nicht zuletzt bei sogenannten Ethikräten und dergleichen. Diese behandeln mitunter Dilemmas um den Beginn und das Ende des Lebens sowie um die Abgrenzung zwischen Mensch und Tier. Eigentlich sind diese religiöse Fragen, denn mit diesen Eckpunkten kann man sehr gut den Kernbereich der Religion festmachen. Auch bei den Atheisten übrigens ist hier & da doch ein Rest von Religion vorhanden: Leichen werden auch von diesen nicht anstandslos dem Biomüll zugeteilt.

Auf jeden Fall ist es wenig hilfreich, wenn gleich bei der Wortwahl wesentliche Unterscheidungen verschwiegen werden.